«Südostschweiz am Wochenende», 2. Juni 2018

 

Anim oder Der Stall der Möglichkeiten

In Savognin entsteht ein Denkzentrum für Zukunftsgestaltung. Heute und morgen öffnen die drei Initianten die Tore am Stradung.

«La Pagina», 7. Juni 2018

ANIM: experimenteller Abend mit Volksliedern

Gesang, der das Volkslied wiedergibt!

Anim, die Ideenwerkstatt und Gedankenstube, wie die Initianten sich selbst benennen, hatte am Wochenende in Savognin Tage der offenen Stalltüren. Mit einem vielseitigen Programm. Unter anderem auch einem experimentellen Abend im Stall. Mit Volkslied.

 Der Wirkungsort von ANIM ist eine Scheune. Eine Scheune aus dem Jahr 1876. Ein bisschen ein grösserer und noblerer Stall als die anderen Ställe es waren in jener Zeit in unserer Region. Er gehörte auch einer etwas nobleren Familie. Auch wenn der Stall in Savognin steht, so beschränken sich die Tätigkeiten von ANIM nicht nur auf den Ort. Nein, sie beschränken sich auch nicht nur aufs Surses, sondern auf die gesamte Region. ANIM ist erst seit ein paar Monaten aktiv. Und die drei Initianten Linda Netzer, Niki Wiese und Florian Wieser selbst, sind dabei den richtigen Weg zu finden. Einen Weg der Unterstützung für wirtschaftliche, kulturelle, soziale und touristische Fragen. Um eine Region zu unterstützen, die diese Unterstützung nötig hat. Die Tage der offenen Stalltüren gaben der Bevölkerung die Möglichkeit ANIM und seine Ideen kennenzulernen, und ANIM die Möglichkeit mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Das hatte man schon vorher in verschiedene Richtungen begonnen.

Auch ein kultureller Blickwinkel

Die drei Initianten von ANIM haben von ihrer beruflichen Herkunft ganz verschiedene Erfahrungsrucksäcke. Nicki Wiese ist Ethnologin mit einem starken Interesse für die Kultur. Samstagabend war ihr Abend. Da eine Scheune auch einen Stall hat sie diese Türe geöffnet und zur «Spinnstallkuhstubete» eingeladen. Im Zentrum stand dabei das Volkslied. Am Samstagabend sind ca. 30 Personen zu Besuch gekommen. Eine gute Mischung von Gästen und Einheimischen. Von einem Fenster im Innern des Stalles rief eine Frau mit der Stimme und dem Auftreten einer Alpenhexe die «Orakel / Alpensegen», die man früher abends auf den Alpen rief. Aber nicht bei uns. Und nicht von Frauen.

Nicki Wiese hat danach die Anwesenden begrüsst und erläutert, dass sich ANIM auch mit Kultur beschäftigt. Man wolle auch das Surses erforschen, man wolle auch die Bewohner erforschen, man wolle auch einen Stall erforschen. Und um die Leute gut kennenzulernen müsse man auch ihre Kultur kennen. Ein Teil davon der ihre Gefühle ausdrücke sei das Volkslied.

Als Gast eingeladen hatte Niki Wiese eine Sängerin aus Schaffhausen, Kornelia Bruggmann. Eine Frau, die sich schon immer auch mit der experimentellen Musik befasste. Sie sollte auch an diesem Abend eine zentrale Rolle spielen.

Am Spinnrad wird fein gesponnen…

Eine zentrale Rolle hatte auch das oberhalbsteiner Volkslied «igl fridel» (das Spinnrad). Ein Volkslied des Heimwehs. Insbesondere für jene, die im Ausland waren. Sie packte jeweils die schlimmste romanische Krankheit: das Heimweh. Aber in der Ferne konnten sie auch «neue Fäden aufnehmen und sie in ihre Kleidung spinnen», so Niki Wiese. Fremde Fäden aus fremden Kulturen.

Kornelia Bruggmann hat mit einer bemerkenswerten Aussprache und mit einer sehr theatralischen Art den Kanon des «fridels» gesungen. Und darauf auch andere Lieder aus der deutschen Literatur, so eines von Johannes Brahms und eines von Franz Schubert. Die Interpretationen der Profi-Sängerin enthielten auch experimentelle Töne mit Hilfe der Technik, so dass ihre Stimme Echo erhielt und sphärisch-elektronische Variationen. Wenn ein Künstler, eine Künstlerin ein bestehendes Lied nimmt und daraus etwas Neues macht, dann spricht man von einem artistischen Lied, erläutert die Sängerin. Es ging jedoch nicht nur um das Lied «fridel», sondern um das Volkslied im Allgemeinen.

Darüber hinaus hat Kornelia Bruggmann zusammen mit Maria Jovanovic-Netzer ine Duett formiert. Maria, eine Frau aus Savognin, welche die romanischen Volkslieder kannte und diese schon als Schülerin und bis heute sang. Zusammen haben sie das Lied «la mamma ed igl unfant» (die Mutter und das Kind) gesungen, eine Komposition von J.R.Weber mit dem Text von Andreia Steier. Ein Lied das in einem Schulbuch aus dem Jahr 1950 stammt.

Auch das Publikum wurde miteinbezogen. Gemeinsam wurden verschiedene bekannte Lieder gesungen. Auch mehrstimmig. Aus den Reihen kam die Feststellung, dass dies alles traurige Lieder seien, dass man fröhlichere Lieder singen sollte. Aber jene, die die romanischen Volkslieder kennen, wissen das diese im Allgemeinen mehrheitlich durch und durch schwer sind. Vielleicht nicht unbedingt traurig, aber zumindest melancholisch. Auch das gehört zur romanischen Kultur. Auch das Volkslied ist beeinflusst, wie die Bewohner auch, von den sie umgebenden Bergen und den dauernden Gefahren, die in der Natur drohten. Und auch vom relativ frostigen Klima und den wirtschaftlichen Bedingungen, welche in früheren Zeiten besagt bitter waren. Und auch wenn ein Lied den Titel trägt «star se legher» (bleibe fröhlich), kommt man zuletzt zu einer nicht sehr positiven Schlussfolgerung; dass die Buben den Mund gefüllt mit Honig haben und das Herz voll Galle!

ANIM: runder Tisch zum Thema «warum Surses?»

Es wird nicht anders gehen: geben und nehmen

Zum Abschluss ihrer Tage der offenen Stalltüren hat ANIM am Sonntagnachmittag zu einer Podiumsdiskussion mit verschiedenen Persönlichkeiten eingeladen. Die zentrale Frage war «warum Surses?». Man suchte eine Antwort, die allerdings nicht definitiv ist.

Die Podiumsdiskussion in der Scheune an der Hauptstrasse 26 hat Florian Wieser, der Mitinitiant von ANIM, moderiert. Er beschäftigt sich auch professionell mit sozio-ökonomischen Fragen. Und diese Frage «warum Surses?», zu deren Beantwortung bereits an der Partenza Blätter zum Ausfüllen verteilt wurden, ist irgendwie wichtig für die Themen von ANIM. Aus den Antworten möchte man Konsequenzen für den Tourismus ableiten und fürs Leben im Tal im Allgemeinen.

Die Persönlichkeiten, die an der Diskussion teilgenommen haben waren: Tanja Amacher, Tourismusdirektorin von Savognin, Beat Jenal, Kanzlist der Gemeinde Surses, Martina Lanz, Hotelliere aus Bivio und Mitgel Netzer, pensionierter Landwirt aus Savognin.

Verschiedene Wege, verschiedene Motive

Zu Beginn wollte Florian Wieser von den Teilnehmenden konkret wissen, wie und warum sie ins Surses gekommen sind. Für Martina Lanz war das relativ klar. Sie ist im Hotelbetrieb ihrer Eltern aufgewachsen. Sie war an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland um ebenfalls Hotelliere zu werden, und vor einigen Jahren hat sie das Hotel Post in Bivio übernommen. Und sie fühlt sich wohl im Surses. Mitgel Netzer erging es ähnlich. Er ist auf dem Bauernhof in Savognin aufgewachsen, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern. Seine Schul- und Lehrzeit war allerdings nicht weit weg und er hat irgendwann den Bauernbetrieb seiner Eltern übernommen. Irgendwann hat sich sein Leben jedoch verändert. Er lebte einen Teil der Woche im Glarnerland bei seiner Partnerin und einen Teil in Savognin. Heute ist er pensioniert und lebt noch immer bald in Glarus, bald in Savognin. Jetzt ist das allerdings nicht mehr ganz so kompliziert.

Tanja Amacher kommt aus Zürich, sie hat allerdings auch schon seit 21 Jahren eine touristische Beziehung zum Surses. Eine Region, die sie sehr schätzte und noch immer schätzt. Und eines Tages habe sie sich gefragt: warum nicht aus dem Feriendomizil auch Arbeitsort machen? Seit 2015 ist sie Direktorin bei Savognin Tourismus.

Etwas komplizierter und länger war der Weg von Beat Jenal. Auch wenn er im Nachbartal, im Albulatal, aufgewachsen ist. Und ursprünglich wollte er seinen Geburtsort nie verlassen. Aber zufällig hat es sich ergeben, dass er mit einem Cousin nach Australien reiste. Danach sei er vom Fernweh-Virus infisziert gewesen. Nach der Ausbildung beim schweizerischen diplomatischen Dienst hat er als Ambassador auf der ganzen Welt gearbeitet und gelebt. Nach der Rückkehr hat er den Dienst als Kanzlist in Churwalden aufgenommen, danach als Korrespondent bei RTR in Savognin gearbeitet und schlussendlich als Kanzlist der Gemeinde Savognin und heute der Gemeinde Surses. «Ich bin froh, dass meine beiden Mädchen im Surses aufwachsen können und nicht in einer Grossstadt mit 13 Mio. Einwohnern wie z.B. Bangkok.»

Probleme mit den Gästen?

Den grössten Teil des Jahres sind unsere Dörfer mehr oder weniger bewohnt von den Personen, die auch hier wohnhaft sind. Während der Hochsaison kommen jedoch eine Menge Gäste. Die Zahl dieser ist dann jeweils um einiges grösser als jene der Bevölkerung. Die Frequenzen auf den Strassen, in den Läden und der Strassenverkehr sind beachtlich grösser. Die Frage von Florian Wieser war, ob das stört. Martina Lanz geniesst die Zeit zwischen den Saisons. Auch um die nächste Hochsaison vorzubereiten. Und sie freut sich, wenn die Gäste hier sind. Viele Gäste kehren immer wieder zurück und sie kennt sie seit Jahren. Sie freut sich auch, gemeinsam mit den Gästen etwas zu unternehmen.

Tanja Amacher geniesst die Zeit dazwischen ebenfalls. Aber sie hat Freude daran, gemeinsam mit den Gästen ihre schönste Zeit im Jahr, die Ferien, zu planen und durchführen zu dürfen.

Mitgel Netzer ist nicht regelmässig hier und hat deshalb keine starke Beziehung zu den Gästen. Er ist auch einer, der sich fragt, ob die Menschen gar Fortschritt brauchen, ob es gar einen Aufschwung braucht.

Beat Jenal ist überzeugt, dass Aufschwung nötig ist. Man könne nicht dauernd von der guten Luft leben. Die Frage sei allerdings immer, wieviel. In der Natur des Menschen liege es, immer mehr zu wollen. Ob das gut sei oder nicht, das sei eine andere Frage. Man wolle aber auch keine Abwanderung aus unseren Dörfern. Die Tendenz hin zu den Zentren sei jedoch nicht alleine ein Problem des Surses, sondern ein globales.

Bei einem Thema waren sich die Teilnehmenden der Diskussionsrunde auch ziemlich einig: eine Industrialisierung der Bergtäler werde es nicht geben. Dafür seien sie allzu weit weg von den Autobahnen. Auch die Digitalisierung werde hier nicht allzu viel ändern. Und gleichfalls hat man festgestellt, dass man heute touristisch viel besser positioniert sei als noch vor zehn Jahren. Und jetzt gelte es, den aktuell spürbaren touristischen Aufschwung anzunehmen und daraus das Beste zu machen.

Die Gemeindefusion werde ebenfalls helfen und das gleichermassen finanziell wie auch mit schnelleren Entscheidungen.